Na, dann will ich auch mal...
Vor zehn Jahren kam mein erstes Tattoo. Schulterblatt-Tribal - also gut verdeckt für Chefs im Einzelhandel - winzig klein (wollte wohl mal üben) und ausserdem sollte es ja nach spätestens 4 Jahren wieder weg sein (wie leicht ich doch damals vom Unmöglichen zu überzeugen war...). Das Ding hat folglich ausser mir niemanden wirklich interessiert.
Da diese Jugendsünde ja partout nicht verschwinden wollte und mittlerweile aussieht, als hätte ich auf einem Stempelkissen geschlafen (fleckig und absolut nicht mehr erkennbar...), ich aber (und da hat das Temptoo vielleicht doch einen Hauch von Daseinsberechtigung gehabt) auf den Geschmack gekommen bin, sollte es nach reiflicher Überlegung nun dieses Jahr endlich "was Richtiges" werden. Zuerst kamen da jedoch Zweifel an der Reaktion meiner besseren Hälfte - der Tintenklecks auf der Schulter wurde bisher auch in die Kategorie "Jugendsünde" gestuft und nicht weiter kommentiert. Ich entschied mich - vielleicht etwas stur und egoistisch - für die Holzhammermethode und wollte schlicht vollendete Tatsachen präsentieren.
Dann jedoch musste ich an meinen Chef denken...
Ich arbeite im Lebensmitteleinzelhandel, sprich Supermarkt. Kundenkontakt ist zwangsläufig, und das dazu noch in einem Markt mit überwiegendem Anteil älterer, konservativ-etepetetegefärbter Klientel in gehobener Lage. Schon über die doch recht dezent gepiercte Augenbraue unseres Azubis gab es Palaver seitens der Kundschaft, der hat nu keins mehr. Als kompromissfreudiger Mensch (zumindest meistens...) wollte ich natürlich keinen Stress verursachen, andererseits aber sollte meine Umwelt durchaus auch sehen können, das ich tätowiert bin. Um Ärger im Vorfeld zu vermeiden und meinen geplanten Karrierekick nicht jäh zu verhindern, habe ich dann letzte Woche meinen Chef ins Büro gezerrt, um mit ihm mal über meine Pläne zu sprechen. Wie man sich täuschen kann...
Meine "Kompromisslösung" war wie folgt geplant: Das Ekelding von vor 10 Jahren auf dem Schulterblatt sollte gecovert werden. Ausgehend von dort sollte ein Tribal (schlagt mich wenn ihr wollt) über die Schulter auf den Oberarm und evtl. auch auf die Brust entstehen, und zwar soweit, dass unter dem kurzärmeligen Diensthemd auch noch was zum Vorschein kommt. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Nun kam es zu einem relativ kurzen, aber ziemlich überraschenden Gespräch: Nachdem mein Chef, zu dem ich zugegebenermassen einen recht guten Draht habe, eingeweiht war, folgte folgende Fragekombination: "Wann hast Du den Termin? Soll ich Dich hinfahren?" Nu war ich baff. Sprachlos und völlig verwirrt. Meine Bedenken bzgl. Kundschaft zerstreute er mit seiner Einstellung: "Die müssen hier endlich auch mal kapieren, dass man heute auch Individuum sein darf, und solange du keine anstössigen Bildchen auf Dir plakatierst, sollen Sie ruhig kommen und sich beschweren. Ich verstehe auch den T. nicht, dass der sein Piercing immer noch rauslässt...". Und weiter (ich hatte gefragt, ob ich am Tag nach dem Stechen frei bzw. wenigstens Spätdienst arbeiten kann): "Das sollten wir hinbekommen. Aber wehe, man sieht nachher nix!" Mit dieser Reaktion unseres ansonsten doch ziemlich konservativen großen Meisters habe ich absolut nicht gerechnet, war deshalb mit meinen Gedanken den ganzen Tag woanders und habe deshalb gen Abend eine ganze Palette Bier in den Laden geworfen (was für eine Verschwendung...)
Es kam der Tag des Stechens, also vorgestern um genau zu sein. Leider musste Cheffe aus persönlichen Gründen sein Taxiangebot kurzfristig zurückziehen, was dann etwas problematisch für mich wurde, da ich ja irgendwie an unser Familienauto gelangen musste, OHNE die Tattooüberraschung zu versauen. Naja, ich hab es dann doch geschafft und war am späten Nachmittag dann endlich dran. Da ich mir mein Gesamtkunstwerk leider zusammensparen muss und es mir nicht in einem Rutsch leisten kann, haben wir auf dem Oberarm angefangen und das Covern des Schulterblattstempels auf den nächsten Termin verlegt, so dass ich nach einer recht schmerzarmen Stunde schon wieder fertig war. Zuhause dann der erste Lichtblick - das Tattoo löste fast überschwängliche Begeisterung aus. Eine knappe Stunde später klingelt es dann unverhofft an der Tür, und - welche Überraschung - mein Chef will sich das Ganze ansehen! Beim nächsten Termin fährt er mit, weil ihm das Ganze so gefällt und er da über eine ganz bestimmte Konsequenz für sich selber nachdenkt.
Meine Fresse, Schreibanfall... So what, mein Fazit: Ich hätte das Ganze auch dann gemacht, wenn mein Chef dagegen gewesen wäre. Da bin ich einfach stur. Mir ist es allerdings immer lieber, im Vorfeld über die Dinge zu sprechen (ausser bei meiner besseren Hälfte, da neigen wir nämlich zu endlosen Diskussionen, bei denen am Ende sowieso immer ich Recht habe

) und dann eventuell gemeinsam nach einem Kompromiss zu suchen, mit dem beide Seiten leben können. Ich würde mir NIEMALS meine persönliche "Entfaltung" von meinem Arbeitgeber verbieten lassen, da ich aber ja zumindest finanziell von ihm abhängig bin, kann man sich ja wenigstens auf bestimmte Grenzen einigen. Wenn ich mit denen nicht zufrieden bin, weiss ich aber zumindest im Vorfeld schon, was auf mich zukommt, wenn ich am Tag eins nach dem Tattoo an meinen Arbeitsplatz zurückkomme, und damit kann ich dann immerhin etwas besser schlafen.
So, nu hab ich endlich feddisch, brauche dringend nen Kaffee und werde mich dann auf die Suche nach einer Antwort auf die Frage "Warum werde ich Sonntags um 5 Uhr wach" begeben...
Kölschen Gruß,
Christian
P.S.: Danke an dieses Forum, das mir bisher Nur-Lesendem dank SuFu mit Rat und Tat zur Seite stand!
"Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr." - C. S. Lewis